Unterwegs im Ahrtal – die Katastrophe ist noch lange nicht vorbei
Von Helfern und ihrem Einsatz nach der Jahrhundertflut







Das Jahrhunderthochwasser am 15. Juli 2021 hat das Leben der meisten Menschen im einst schönen Ahrtal für immer verändert. Obwohl der Wetterdienst bereits vier Tage zuvor gewaltige Regenfälle prognostizierte und am Tag vor der Katastrophe feststand, dass es eine solche werden wird, wurde die Bevölkerung nicht gewarnt, niemand wurde evakuiert, niemand konnte sich auf das vorbereiten, was da kommen sollte. Die Versäumnisse sind bürokratischer Natur – mit furchtbaren Folgen für die Betroffenen. In der Folge haben unzählige Menschen einfach alles verloren – viele sogar geliebte Familienmitglieder, von denen immer noch nicht alle gefunden wurden. Diese hohe Anzahl an Opfern hätte eindeutig vermieden werden können.
Aber (nichts ist ja bekanntlich so schlecht, dass es nicht auch eine kleine gute Seite hätte): Die unfassbare Katastrophe hat eine beispiellose Welle der Hilfsbereitschaft in ganz Deutschland ausgelöst. Unzählige Landwirte, Lohnunternehmer und freiwillige Helfer sind gleich am nächsten Tag ins Ahrtal aufgebrochen, um zu helfen – und das war und ist dringend nötig!
Wo Regierung und Behörden kläglich versagten und bis auf ein paar Rundflüge und vielversprechende Worte von offizieller Seite bislang nichts passiert ist, haben unzählige Menschen aus dem gesamten Bundesgebiet sofort die Initiative ergriffen. Landwirte sind inmitten der Erntezeit ins Ahrtal aufgebrochen, haben teilweise neun Anfahrtstunden auf dem Trecker auf sich genommen, alles an dringend benötigten Maschinen und Anhänger mobilisiert und die Arbeit zu Hause umorganisiert. Andere Unternehmer sind auf eigene Initiative mit Baggern, Radladern und schwerem Gerät angerückt, um zu helfen, wo es auch immer geht. Viele von ihnen haben dabei ihre eigene Existenz aufs Spiel gesetzt, da diese Arbeiten nicht vergütet werden.
Futtermittel wie Heu, Stroh und Getreide wurden bundesweit gesammelt und ins Ahrtal gebracht, denn die ansässigen Landwirte und ihre Tiere, die überlebt haben, haben einfach nichts mehr – Ernte und Weiden sind hin, der Boden durch Öltanks und jede Menge anderen angeschwemmten Müll verseucht, Futterreserven und Ställe sind vernichtet.
Auch aus unserer Region sind viele hilfsbereite Menschen aktiv geworden und vor Ort gewesen. Zwei davon sind Matthias Weitzel vom REWE-Markt in Bad Lauterberg und Andreas Neukirchner, Rohr- und Kanalreinigung, aus Bad Sachsa.
Ein Gespräch mit Matthias Weitzel, REWE-Markt Bad Lauterberg
Wann kam Dir die Idee, einen ganzen LKW voller Hilfsgüter ins Ahrtal zu schaffen?
Matthias: Die Idee mit dem LKW kam bei mir recht zeitnah auf, da alle Erinnerungen an die damaligen Hilfstransporte 2002 ins Müglitztal sofort wieder in mir aufflammten.
Wieviele Hilfstransporte sind bisher gelaufen – wieviele sind noch geplant und wann? Macht Ihr so weiter? Das macht die Spedition doch sicher nicht umsonst, oder?
Matthias: Den ersten Hilfstransport fuhren wir am 19. August nach Walporzheim. Ich rief einen guten Kumpel bei der Spedition Krüger Internationale Transporte GmbH an, und nach „Hallo Matze“ kam sofort die Frage: „Brauchste nen LKW?“ So muss es laufen!
Den zweiten Transport fuhren wir am 13. September ebenfalls wieder nach Walporzheim. Die Spedition fährt unsere komplett ausgeladenen Sattelzüge unentgeltlich ins Katastrophengebiet. Dies ist nicht selbstverständlich bei den dadurch entstehenden Kosten!
Den dritten Hilfstransport planen wir für Kalenderwoche 42. Maßgeblich, ob ein Transport durchgeführt werden kann, ist, dass im Vorfeld genügend Spendengelder auf unserem Spendenkonto eingehen, um einen ganzen LKW mit dringend benötigten Hilfsgütern beladen zu können. Bisher war das der Fall, einige Privatpersonen spendeten sogar schon zwei Mal im vierstelligen Bereich.
Leider nimmt die Spendenbereitschaft ab, was ich darauf zurückführe, dass sich keiner, der nicht da war, vorstellen kann, dass es sich um ein Katastrophengebiet handelt, dessen Ausmaß an Zerstörung, Not und Leid nicht wirklich in Worte zu fassen ist.
Woher weißt Du, was am dringendsten benötigt wird?
Matthias: Was genau gebraucht wird, erfrage ich bei Wilhelm Hartmann oder der Dispo vom Baustoffzelt Kaiser. Ich habe in der Woche mehrmals Kontakt mit den entsprechenden Personen und kann dann gezielt Baustoffe oder andere Güter von den Spendengeldern im Vorfeld disponieren und im Lager meiner Märkte einlagern.
Ich kaufe die Dinge ein, als wäre es mein eigenes Geld und hole Angebote ein. Jeder Cent zählt!!
Selbst Lebensmittel für Helfer und Bedürftige werden dringend gebraucht – und das 2021 mitten in Deutschland! Überall im Tal stehen von privat organisierten Vereinen oder Berufenen Essenausgabestellen, die ausschließlich von Spenden ihre Funktion aufrecht erhalten können und tausenden von Menschen einmal am Tag eine warme Mahlzeit ermöglichen.
Du warst ja selbst bereits zwei Mal vor Ort, um die Hilfsgüter an den Mann (und die Frau) zu bringen – wie waren Deine Eindrücke, wie ist die Stimmung unter den Menschen?
Matthias: Ja, zwei Mal war ich jetzt im Ahrtal. Das erste Mal mit meinem Schwiegersohn Manuel Cziehso zur Übergabe der Hilfsgüter und das zweite Mal vom 13. bis 19. September. Ich bin bei den Übergaben immer persönlich dabei und kann versichern, dass alles dort ankommt, wo es gebraucht wird.
In der Woche war ich noch als Helfer eingesetzt im Baustoffzelt Kaiser und fuhr u. a. mit unserem Kleintransporter Baustoffe und Güter zu Menschen, die kein PKW mehr besitzen oder auf Grund der Gesundheit nicht in der Lage waren, die Sachen selbst zu holen.
Auch LKW-Kipper und anderer LKWs fuhr ich in der Woche. Hierzu musste ich meinen LKW-Führerschein verlängern lassen, wo ärztliche Untersuchungen erforderlich waren. Alles reibungslos.
Zu weiteren Jobs dort gehörte auch Waffeln für Betroffene und Helfer zu backen, Frühstück für die Crew vom Versorgungszelt zu machen, Waren anzunehmen und im Zelt zu verteilen, Bedürftigen bei der Suche zu helfen – und Menschen, die sich mitteilten, einfach zuzuhören und sie auch in den Arm zu nehmen. Dies kam sehr oft vor.
Wenn der lange und harte Tag um war und ich mich in meine Unterkunft zurückzog, dauerte es sehr, sehr lange, den Tag mit seinen ganzen Eindrücken und dem gesehenen Leid zu verarbeiten.
Haben die Betroffenen eigentlich bislang Unterstützung von Behörden oder Regierung erhalten?
Matthias: Wenn ich daran denke, dass einige sich sagen: Das ist weit weg, die sind versorgt, der Staat hilft denen doch, Helfer gibt‘s anscheinend auch genug, zweieinhalb Monate danach müsste alles in geregelten Bahnen laufen, da wurden Millionen von € gespendet und Millionen staatlicher Hilfen beschlossen und die caritativen Organisationen haben auch Unmengen an Millionen € erhalten und die Gelder fließen und und und ... Bullshit! Ich könnte schreien bei dem Gedanken daran.
Ich werde weitermachen – und nicht nur morgen und übermorgen.
Dies geht uns alle an, und wir wären sicherlich auch sehr froh, wenn wir betroffen wären und Hilfe vom Rest der Bevölkerung erhalten würden.
Wie denken die Betroffenen darüber?
Matthias: Fast jeder der Betroffenen sagt, dass sie alle unendlich dankbar sind für die Hilfe aus der Bevölkerung, von den Helfern vor Ort und privaten Organisationen.
Verlassen fühlen sie sich dagegen von der kommunalen, Landes- und Bundespolitik.
Was sind Deine schlimmsten und schönsten Eindrücke und Erlebnisse vor Ort gewesen?
Matthias: Leider ist es halt auch so, dass dort, wo Leid und Not sind, auch nicht so gute Menschen ihr Unwesen treiben. Nachts wurden/werden Baumaschinen (Bagger) entwendet, in leerstehende Häuser wird eingebrochen, Baumaterialien, Baugeräte und private Dinge werden entwendet. Selbst für das Containerdorf (Wilhelms-Hafen) für Helfer und Bedürftige und das Baustoffzelt Kaiser ist 24/7 ein Securitydienst zuständig und bewacht alles!
Wovor haben die betroffenen Menschen am meisten Angst? Was sind ihre größten Probleme?
Matthias: Die Menschen haben Angst, vergessen zu werden und dass die Hilfe schnell versiegt – von Helfern, finanzieller Unterstützung, Schadensabwicklung zu ihrem Nachteil und dass sie ggf. nicht mehr in ihrem Ahrtal leben können.
Und dann gibt es die Betroffenen, die kein Licht am Ende des Tunnels sehen, die alles verloren haben, wo Freunde und Familienangehörige in den Fluten umkamen. Wo Notfallseelsorger ihre Arbeit verrichten.
Wo Kinder nicht einfach mal in ihre alte Schule oder den KIGA können, weil es die nicht mehr gibt oder sie baufällig sind. Nun müssen sie andere, weit entfernte Schulen besuchen – Kinder, die diese Katastrophenflut live erlebt haben und traumatisiert sind. Kinder, die sich über ein gefundenes und übergebenes, verschlammtes Poesiealbum oder Kuscheltier freuen. Und Menschen, denen gefundene Stammbücher, Fotoalben und Grabkreuze ein kleines Stück Seelenfrieden zurückgeben.
Was schätzt Du, wie lange die Bewohner des Ahrtals noch Hilfe benötigen?
Matthias: Hilfe wird durchgängig in jeglicher Form noch über Jahre erforderlich sein. Der Schaden an Infrastruktur, privatem Besitz, Natur und der Seele ist riesig.
Was kann jeder Einzelne tun, um zu helfen?
Matthias: Jeder von uns kann helfen. Sei es durch finanzielle Hilfe (wobei man gut überlegen sollte, wo man spendet: Die Auszahlungen vieler Institutionen sind noch nicht erfolgt, denn ein „Wasserkopf“ nährt sich auch davon), als Helfer vor Ort im Tal, wenn man sich nicht scheut dreckig zu werden und abends durchgeschwitzt ist und unangenehm riecht, körperlich dazu in der Lage ist und das Erlebte und Gesehene verarbeiten kann, oder ob man sich einfach dazu berufen fühlt, Menschen zuzuhören und auch Kleinigkeiten zu erledigen.
JEDER KANN, WENN ER WILL!
Gibt es eigentlich noch „Flutwein“ im REWE? Was hat es damit auf sich? Erzähl mal ...
Matthias: Ja, Flutwein gibt es noch im Markt. Wir haben den Wein bei einem Weingut in Walporzheim beim ersten Transport gekauft. Die Flaschen wurden aus dem Flutschlamm der Weinkeller geborgen, händisch jede Flasche abgewaschen und in Gitterboxpaletten gestapelt. Der LKW muste ja nicht leer nach Hause fahren ... Die Spanne, also das zwischen Einkaufpreis und Verkaufspreis, wird zu 100 Prozent von uns für weitere Hilfstransporte genutzt. Hier verdiene ich keinen Cent daran.
Kann man in Deinem REWE-Markt noch spenden? Wo und wie geht das?
Matthias: Spenden kann jeder durch die Leergutspende, an den Kassen in Spendendosen oder auf das Spendenkonto (siehe Seite 11).
Der nächste LKW mit Hilfsgütern steht in den Startlöchern!
Andreas Neukirchner, Rohr- und Kanalreinigung, berichtet:
Andreas: Wir waren drei Wochenenden im Ahrtal, von Freitag bis Sonntag haben jeden Tag mindestens zwölf Stunden gearbeitet. Das erste Mal waren wir mit fünf Fahrzeugen da. Nur Spezialtechnik haben wir mitgenommen, da diese am schnellsten benötigt worden ist. Wir haben uns um das Kanalnetz gekümmert, Keller ausgepumpt und Tiefgaragen ausgesaugt.
Beim zweiten Mal waren wir mit der ganzen Firma im Ahrtal und haben alles, was Räder hat, mitgenommen, um dort wieder zu helfen. Zwei Saug-Spülwagen, Saugbagger, Rohrreiniger, Abroller, Radlader, Kehrmaschine, Trecker ... und nicht zuletzt zehn Mann aus der Firma sowie vier freiwillige Helfer, die wir noch mitgenommen haben bzw. die uns unterstützt haben.
Was ich beeindruckend fand, war die Solidarität der Menschen: Ob es um die Verpflegung geht oder beim Aufräumen – sie ist riesig. Man kann das gar nicht so schreiben, was man da erlebt hat. Ich kann aber sagen, dass ich mich jeden Tag zusammenreißen musste, damit mir nicht die Tränen kommen. Mit den ganz, ganz schlimmen Sachen haben wir uns nicht auseinandersetzen müssen ...